Vor 50 Jahren begann es im kleinen Rahmen. Neun Personen haben am 1. Dezember 1970 die Arbeit aufgenommen. Heute sind es 270 Mitarbeitende mit Behinderung, die Tag für Tag in die Caritas-Werkstatt Pocking kommen. Seit fünf Jahrzehnten wird eine Erfolgsgeschichte von gesellschaftlicher Teilhabe und Integration von Menschen mit Handicap geschrieben. Ein Grund zum Feiern. Wenn auch unter Corona-Bedingungen anders als geplant.
Viel hat sich geändert: das gesellschaftliche Bewusstsein, die gesetzlichen Bestimmungen, die räumlichen Bedingungen oder auch die Kunden der Werkstatt. Das Ziel ist aber gleich geblieben: Menschen die Teilhabe am Arbeitsleben zu ermöglichen. Für Caritasvorstand Michael Endres ist entscheidend: "Menschen in die Mitte unserer Gesellschaft zu holen, ihnen über eine berufliche Beschäftigung in unserer Werkstatt zu ermöglichen Teil unserer Gesellschaft zu sein." Sie sollen, so der Caritasdirektor, dabei maßgeschneiderte Hilfen in arbeitstechnischer und pädagogischer Hinsicht erhalten. "Sie können ihre Stärken und Fähigkeiten einbringen, diese sich selbst, den Familien sowie der ganzen Gesellschaft beweisen", sagt der Diözesan-Caritasdirektor mit Stolz auf die Mitarbeitenden mit Behinderung. Genau so stolz ist er auf die rund 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die diese mit großem Einsatz begleiten und betreuen. Allen miteinander gilt sein großer Dank.
Die Anfänge liegen in den Räumen der ehemaligen Realschule am Wilhelm-von-Rottau-Weg in Pocking. Menschen mit geistiger Beeinträchtigung eine adäquate und ihnen gerecht werdende Beschäftigung und Arbeit zu bieten, war Ende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts noch eine nahezu revolutionäre Idee. In den Nachkriegsjahren gab es so gut wie keine speziellen Bildungs- und Arbeitsangebote für Menschen mit Handicap. Im Dezember 1970 war die Werkstatt in Pocking die zweite Einrichtung dieser Art in ganz Niederbayern.
Von Beginn an wollte die Werkstatt, vom Kreis-Caritasverband Griesbach initiiert und 1970 in dessen Trägerschaft gestartet, nicht nur Beschäftigung anbieten. Die Entwicklung und Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen durch sinnvolle Arbeit in der Gemeinschaftwar das Ziel. Mit sechs Frauen und Männern und drei Personen zur Begleitung wurde damals noch klein angefangen. Der Sozialarbeiter Karl-Heinz Knappe wurde als Leiter, Hans Endl als Werkmeister und Maria Schreiner als hauswirtschaftliche Mitarbeiterin eingestellt.
Diese Art der Einrichtung für Menschen mit Behinderung galt damals als reine Sozialhilfe-Maßnahme, deshalb sprach man auch von einer "beschützenden Werkstatt".
Foto von 1970: „Aktion Sorgenkind“, wie es damals noch hieß (heute „Aktion Mensch“), spendete zur Eröffnung einen VW-Bus
Der erste Standort am Wilhelm-von-Rottau-Weg bot für insgesamt 25 Menschen mit vorrangig geistiger Behinderung eine Arbeitsmöglichkeit unter pädagogischer Anleitung und psychologischer Unterstützung.
Foto von 1971: Belegschaft der damaligen Werkstatt
Das damals neue Angebot wurde sehr gut angenommen. Schnell wurde die Werkstatt in der Stadtmitte zu klein. Bereits 1972 begannen die Planungen für den Neubau der Einrichtung, für dann 80 Personen, am jetzigen Standort am Weizauer Weg. 1973 hat der Diözesan-Caritasverband die Trägerschaft übernommen
Aufgrund der beständig steigenden Anzahl der Beschäftigten wurde in den Jahren 1982, 1988 und 1996 wieder erweitert. 1988 wurde aus Platzmangel eine provisorische Außenstelle für 30 Belegschaftsmitglieder in Rottau gegründet. Im Rückgebäude des Gasthauses Niedermeier wurde in den Räumen einer früheren Näherei eine Montagegruppe eröffnet. In der Folgezeit kam noch eine Metallabteilung dazu.
Foto von 1988: Metallbereich in Rottau
Von 1996 bis 1998 wurde die Einrichtung am Weizauer Weg baulich vergrößert. Es entstand ein Erweiterungsbau für insgesamt 200 Arbeitsplätze für Menschen mit Handicap.
Im Jahr 2000 waren bereits 252 behinderte Menschen und 78 unterstützende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt.
Foto von 2000: Belegschaft 30.-jähriges Bestehen Werkstatt
Auch zum Jubiläum steht jetzt eine Erweiterung an. In den kommenden Jahren wird ein Ersatzneu für 290 Mitarbeitende errichtet, der Bestandsbau saniert. Diözesan-Caritasdirektor Endres: „Wir erweitern und sichern damit die Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung und gleichzeitig auch die Wettbewerbsfähigkeit der Werkstatt für die Zukunft“. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Bezeichnung der Einrichtung entwickelt. Aus der anfänglichen „beschützenden Werkstatt“, wurde später die „Werkstatt für Behinderte“, heute die „Werkstatt für behinderte Menschen“, bzw. Menschen mit Behinderung. Dahinter steht ein verändertes Selbstverständnis der Werkstätten.
Während Behinderung früher ausschließlich als Defizit definiert wurde und die Betroffenen vor allem verwahrt, betreut und beschäftigt wurden, wird der Anspruch auf Teilhabe und Inklusion mittlerweile auch durch die Möglichkeit einer sinnvollen Arbeit realisiert. Werkstätten bieten berufliche Bildung mit dem Ziel der Qualifizierung und Teilhabe am Arbeitsleben. Die Bildungspläne orientieren sich an den Ausbildungsplänen von anerkannten Lehrberufen. Dabei werden die Arbeitsbedingungen auf die Fertigkeiten und Fähigkeiten der Menschen mit Handicap abgestimmt, deren Begabungen ausgebildet und gefördert. Rund 270 Menschen mit den unterschiedlichsten Einschränkungen arbeiten in der Pockinger Werkstatt heute. Begleitet werden sie von knapp 100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. An mittlerweile zwei Standorten - Pocking und im Siemensgelände in Ruhstorf - werden Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen die wegen Art und Schwere ihrer Behinderung nicht oder noch nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten können, zur Teilhabe an Arbeit befähigt und gefördert.
Teppiche weben, Besen binden, Kerzen fertigen: solche ursprünglich typischen Werkstatt-Arbeiten gibt es heute nicht mehr. Heute werden Aufträge aus der Wirtschaft in den Bereichen Holz, Metall, Montage und Serienfertigung professionell bearbeitet. Namhafte örtliche sowie weltweit agierende Firmen und Konzerne zählen zu den Kunden. Sie kommen aus den Branchen Motorenbau, Automobilindustrie, Medizintechnik, Windenergie, Elektronik, Sportartikel, Baubranche und Maschinenbau sowie aus der Lebensmittelindustrie. Bei den Industriekunden gibt es ein breites Produktspektrum von Tourenskibindungen über hochkomplexe Kabelstränge, Stanzteilen bis zu hochwertigen Metallteilen für Getriebe und Windkraftgeneratoren, die auf modernen CNC-Anlagen produziert werden. Wie jede andere Firma unterliegt auch die Caritas-Werkstatt-Pocking dem stetigen Wandel, auch dem Konkurrenzdruck. Die Schreinerei fertigt Eigenprodukte, die sowohl direkt, über Online-Shops als auch über den kooperierenden Einzelhandel wie Quebag oder Fressnapf vertrieben werden. Gefertigt werden hier hauptsächlich hochwertige Massivholz-Produkte für Heim und Garten wie Futterhäuschen, Behausungen für Vögel, Igel, Bienen oder Hummeln. Das neueste Produkt ist der sogenannte Schiffer-Tree, der wie ein hohler Baum als Behausung für Bienen oder andere Baumhöhlenbewohner dient.
Schiffer Tree
Für Menschen mit Mehrfach- und Schwerstbehinderung ist in der angeschlossenen Förderstätte eine intensive Begleitung gegeben. Dazu kommen in der Werkstatt verschiedene Wohn-, Beratungs-, Hilfs- und Freizeitangebote, um den Menschen mit Handicap eine weitgehende Teilhabe zu ermöglichen. „Vieles hat sich gewandelt in 50 Jahren“ fasst Werkstatt-Leiter Erich Auer zusammen. Es bleibe aber eine Konstante: „Ein Platz um miteinander zu arbeiten und voneinander zu lernen“. Die Caritas möchte diesen Menschen „damit einen Raum zum Arbeiten geben und einen Ort zum Leben, der ihnen Heimat bietet und gleichzeitig einen Platz in der Gesellschaft. Ihnen jene einmalige Würde und wahre Persönlichkeit geben, die ihnen von Gott her geschenkt ist“.