Passauer Studentinnen stehen beim Diözesan-Caritasverband ehrenamtlich für ganz besondere Beratungen zur Verfügung. Bei der "Brücke Passau" begleiten sie straffällig gewordene Jugendliche und Heranwachsende zwischen 14 - 21 Jahren beim Lesen.
Tatsächlich verhängt das Amtsgericht Passau als Sanktion für eine begangene Straftat mitunter sogenannte "Leseweisungen".
Beim ersten Beratungsgespräch wird mit den einzelnen Jugendlichen die aktuelle Lebenssituation und die begangene Straftat detailliert besprochen. Dann wird gemeinsam aus einem umfangreichen Katalog der Jugendliteratur ein Buch gewählt. Es soll inhaltlich und thematisch möglichst viele Parallelen zum begangenen Delikt und zur Lebenssituation des jungen Menschen haben. Bis zum zweiten Beratungstermin müssen die Beraterin und der Proband das Buch gelesen haben.
Im Gespräch wird dann bewusst, wie Buchinhalt, Lebenssituation und Straftat zusammenpassen. "Was unterscheidet Dich vom Hauptprotagonisten? Welche Parallelen gibt es zwischen Euch? Was hätte man an seiner Stelle anders machen können? Warum konnte es überhaupt so weit kommen?". Solchen Fragen wird nachgegangen, wie Marc Aubry, Sozialpädagoge bei der Brücke Passau, erläutert.
"Durch die Betrachtung einer Geschichte von außen werden oftmals leichter Lösungsstrategien gefunden", so Aubry. "Es folgen Einsichten, die Jugendliche von sich aus nicht so einfach leisten können, wenn es um sie selbst geht". Die gewonnenen Erkenntnisse ließen sich meist gut auf die Person adaptieren, der die Leseweisung auferlegt wurde. Dazu gibt es eine schriftliche Reflexion mit individuell zugeschnittenen Fragen. Marc Aubry: "So können die gewonnenen Erkenntnisse gefestigt werden. Die richterliche Weisung ist damit erfolgreich erfüllt". Das sorge bei den Betroffenen auch für große Erleichterung.
Das Projekt "Leseweisungen" haben in Passau im vergangenen Jahr von Marc Aubry, "Brücke Passau und die Jugendrichterin am Amtsgericht Passau, Sarah Fenster, initiiert. Die wertvolle Kooperation der Jugendämter der Stadt und des Landkreises Passau ermöglichte erst dieses Projekt. "Dafür sind alle Beteiligen sehr dankbar", betont Aubry. Der pädagogische Effekt einer Leseweisung sei jenem einer Arbeitsauflage, sprich Sozialstunden, sehr überlegen. "Zwar ist die unentgeltliche Arbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung ein gutes Mittel, um delinquentes Verhalten zu sanktionieren. Doch in diesem Setting geschieht in der Regel keine nennenswerte Auseinandersetzung mit der begangenen Tat, mit Lösungsstrategien für Problemsituationen oder mit erstrebenswerten Zukunftsperspektiven", erklärt der Sozialpädagoge. Bei einer Leseweisung hingegen werde all dies in jedem Fall individuell erarbeitet. "Der Lerneffekt und der Mehrwert sind für den Betroffenen daher signifikant größer", so Marc Aubry.
Mitunter entdecken Jugendliche überhaupt das Buch als spannendes Medium. "Ich hätte nie gedacht, dass es in einem Buch um so krasse und coole Sachen gehen kann!" berichtet ein junger Mann nach seiner Leseweisung. "Cool zu wissen, dass es Leute gibt, bei denen es genauso schieflief, wie bei mir und die dann trotzdem noch die Kurve gekriegt haben!", resümiert ein anderer.
Bemerkenswert ist, dass die Jugendlichen in ihrer Leseweisung von Ehrenamtlichen beraten und betreut werden. Hierfür haben die aktuell sieben Studentinnen im Vorfeld eine zweitägige Schulung der Richterin Sarah Fenster sowie des Sozialpädagogen Marc Aubry besucht. Zudem informiert und betreut Beate Heindl, Caritas-Fachbereichsleiterin Ehrenamt und Freiwilligendienste, die Ehrenamtlichen in allen rechtlichen und organisatorischen Fragen.
Beim Treffen zu den „Leseweisungen“ im Passauer Amtsgericht galten noch die Corona-Regeln. (Von li): Die Passauer Studentinnen Vera Lutz, Maxima Epe, Amelie Ruckle, die Richterin am Amtsgericht Sarah Fenster, Marc Aubry von der Brücke Passau, Andrea Nockemann, Esther Zitzl und Isabella Jaufmann.Foto: Caritas Passau
Für die Studentinnen selbst bietet ihre Tätigkeit einen großen Mehrwert. So berichtet Esther Zitzl: "Da man nie ganz genau weiß, was bei der jugendlichen Person eigentlich genau geschehen ist, ist der erste Teil der Leseweisung immer eine Überraschung. Die Situation erfordert spontanes und offenes Handeln. Die Möglichkeit, in die Lebensrealität dieser straffällig gewordenen Jugendlichen einen Einblick zu erhalten, empfinde ich als sehr bereichernd. Diese jungen Biographien weiten einerseits den eigenen Blick, andererseits sensibilisieren sie für die doch oft fremden Lebenswelten, in denen die Jugendlichen beheimatet sind." Auf die Frage: "Wie sind die Jugendlichen denn so?" antwortet sie: "Nicht vergleichbar und einzigartig. Sie alle sind verschieden und haben doch eines gemeinsam: Sie sind Jugendliche, die in ihrem Wesen und ihrer Persönlichkeit von dem individuellen Umfeld ihres bisherigen Lebensweges geprägt worden sind. Ihre Lebensumstände sind oft herausfordernd und schwierig. Sie haben Fehler begangen haben und bekommen durch die Leseweisung die Möglichkeit, sich damit reflektiert und intensiver auseinanderzusetzen. Es sind junge Menschen, die teilweise aus einer mir unbekannten Welt kommen und die nur ein paar Jahre jünger sind als ich. Es sind junge Menschen, die meinem Eindruck nach, oft einfach nur froh sind, dass sich jemand Zeit für sie nimmt, sich für sie und ihr Leben interessiert und ihnen einfach nur zuhört."
Jedes Beratungsgespräch wird von Marc Aubry mit der jeweiligen Studentin gründlich vor- und nachbereitet. "Dies dient der Qualitätssicherung, gleichzeitig werden so die Ehrenamtlichen mit jeder übernommenen Leseweisung sattelfester und erfahrener", erklärt er. Sie würden von den Erfahrungen und Einschätzungen des Pädagogen profitieren. Beruhigend sei auch, dass die Studentinnen während ihres Beratungsgespräches jederzeit Hilfe in Anspruch nehmen können. Esther Zitzl: "Meine Nervosität ist im Zuge der Leseweisung zum Glück recht schnell verflogen - hier hat sehr geholfen, dass ich die ganze Zeit wusste, dass jemand von der Brücke Passau im Nebenraum ist und falls irgendetwas wäre, ich zu jeder Zeit Unterstützung bekommen würde."