Essay von Wolfgang Duschl
Ein Superlativ? Die Tour de France ist eine ganze Reihe von Superlativen: Das größte, das längste und das schwerste Radrennen der Welt. Das größte jährlich stattfindende Sportevent der Welt. Weltweit übertragen in über 200 Länder. Geschätzte Gesamtzuschauerzahl 3,5 Milliarden. Eine halbe Million Menschen säumen Tag für Tag die 3400 Kilometer auf den 21 Etappen live. Ein kostenloses Sportspektakel der Extraklasse liefern die 176 Fahrer der 22 Teams.
Bergauf und Bergab, flach dahin, rasen um zehntel Sekunden. Ein unfassbares Abenteuer für die Racer selbst und die Gäste am Straßenrand. Hautnah schießen sie vorbei, angetrieben durch ein Gewitterdonnern aus dem "Allez, Allez" und dem Trommeln an den Werbetafeln. Ein gigantisches Volksfest drei Wochen lang. Diese Tour de France kann man auch als Tour de vie, Reise durch das Leben verstehen. Und ist ganz nahe bei den Grundthemen unserer Caritas. Wie passt das zusammen?
Bergetappen sind gewaltig, lang und steil
Ein Versuch! Die Streckenführung der einzelnen Etappen ist so unterschiedlich wie die Lebenswege eines Menschen. Es geht manchmal gewaltig, lang und steil bergauf. Die Bergetappen, etwa zum Col de Loze, kosten unendlich Kraft; sind mühevoll und schweißtreibend. Rasant mit bis zu 80 km/h donnert das Peloton gen Tal. Können ist gefragt, Geschick und manchmal auch Wagemut. Voller Einsatz, Konzentration auf das Wesentliche. Die Kräfte muss man sich einteilen - können. Jede und jeder von uns weiß das, ob am PC-Arbeitsplatz oder in der Pflege. Im Leben gilt es tiefe Täler zu durchschreiten und mit aller Kraft hinauf zu kämpfen zu den Gipfeln seiner selbst.
Mächtig steil zieht sich die kleine Straße hinauf zum Gipfel. Die Fahrer gehen an und über ihre Grenzen.Foto: Wolfgang Duschl
Das Gelbe Trikot und den Sieg gibt es nur im Team
Niemand kann die lange Strecke im Gelben Trikot des Führenden alleine schaffen. Nur ein starkes Team kann die Schwerstarbeit auf den Rädern bewältigen. Die einen holen Nahrung und Getränke, andere machen das Team in der Gruppe schnell. Wieder andere ziehen den Sprint an um ganz am Schluss dem Schnellsten des Teams den Weg frei zu machen. Und die sogenannten "Edelhelfer" fahren ihren Teamkapitänen auf Bergetappen lange voraus und begleiten sie in jenen Phasen, wenn der Körper längst über der Leistungsgrenze spurt. "Wir. zusammen" und "Du für uns und wir für andere". Unsere Caritas-Botschaften passen gut zu diesem Bild.
Im Gelben Trikot erreicht der spätere zweifache Toursieger Jonas Vingegaard den höchsten Punkt der Tour mit 2300 Meter am Col de Loze am Mont Blanc.Foto: Wolfgang Duschl
Global Cyclists and global Players
176 Fahrer aus der ganzen Welt sind Anfang Juli in Bilbao gestartet. Bunt nach Hautfarbe und Abstammung. Global Cyclists, sozusagen. Caritas und Kirche sind seit Beginn ihrer Geschichte ebenfalls solche Global Player. Katholisch meint weltumspannend und "Caritas internationalis" ist organisierte Nächstenliebe unter dem Flammenkreuz vereint. Das Kreuz mit den zwölf Flammen ist ein tolles Logo mit Alleinstellungsmerkmal für unseren Caritas-Rennstall rund um den Erdball, für das Trikot der Millionen Edelhelfer*innen in den Brennpunkten der Kriege, des Hungers, der Katastrophen.
Wasser: Völlig ausgepumpt kommen die Rennfahrer beim Berg-Einzelfahren im Ziel an.Foto: Wolfgang Duschl
Ein Fest der Nationen und der Nachbarschaft
Dann das Volksfest an den Straßenrändern der "Grand Tour", wie das zum 110. Mal ausgetragene Radrennen auch genannt wird. Jung und Alt, Oma mit dem Enkel, Opa als Senior-Radfahrer, die Eltern grillen vor dem Zelt, die kilometerlange Schlange der Wohnmobile, in den gefeiert wird. Franzosen, Norweger, Dänen, Slowenen, Deutsche, Briten, Amerikaner und Australier, Spanier, Italiener oder Belgier, Israelis und Emiratis …. Sie verschmelzen zu einer großen Familie für Tage. Nachbarschaft gilt, nicht nationales Prestige. Jeder Fahrer wird angefeuert, woher er auch kommt. Der Fan-Zoff in den Fußballstadien ist weit weg, ganz zu schweigen von Aggression oder Gewalt. Sich miteinander freuen und in den Armen liegen. Das macht glücklich. So ein Miteinander kennt auch die Caritas in den vielen Gruppen der Ehrenamtlichen. Nicht die Hautfarbe zählt, die Herkunft, der soziale Status. Du sollst bei der Caritas Mensch sein können. So wie Du bist, geachtet und wertgeschätzt.
Es gibt letztlich keine Verlierer
Rollstuhlfahrer haben sich den fast 20 Kilometer langen Schlussanstieg zum höchsten Punkt der Tour in Courchevel, nahe dem Mont Blanc, hinaufgewuchtet. Rennradler schweißüberströmt an älteren E-Bikern vorbei. Mountainbiker kurbeln Meter um Meter und die Fußgänger erhalten auch den wohlverdienten Applaus vom Streckenrand. Ja das ist eine seltsame Karawane von Menschen. So unterschiedlich, so bunt wie das Leben. Behindert, verletzlich, oft unausbalanciert, langsam vorüberziehend oder schnell durch die Tage rasend, manchmal scheiternd und von zuverlässigen Helfern sicher betreut. Alle gehören dazu. Jeder, jede, ist von Bedeutung. Niemand ist ausgeschlossen. Selbst der Letzte im Ziel erhält seinen Beifall und darf stolz sein. Es gibt letztlich keine Verlierer. Inklusion pur.
Auf einem Teil der 166 Kilometer langen Königsetappe von St. Gervais am Mont Blanc nach Courchevel hat sich der Autor geschunden. Hier bei der Bergankunft am Col de Loze.Foto: Wolfgang Duschl
Allen Skandalen zum Trotz, wider alle Doping-Verdächtigungen und Mutmaßungen, bei all den finanztechnischen Mechanismen: Die Tour de France ist eine Grand Tour de vie - eine große Tour Lebens, für Stunden sogar ein Präludium des erfüllten Lebens.